06.09.08

1. Die frühen Jahre

Ich wurde im August 1902 in Kolanukonda, einem kleinen Dorf im Guntur Distrikt in Andhra Pradesh geboren. Mein Vater starb, als ich vier Jahre alt war und meine Mutter folgte ihm, als ich zehn war. Mein ältester Bruder, der von Geburt an kleinwüchsig war, konnte sich nicht um die Familie kümmern, und meine anderen beiden älteren Brüder waren in Madras auf dem College. Deshalb blieben meine ältere Schwester und ihr Mann bei mir und kümmerte sich um mich.

Ich war gerade mal 11 Jahre alt, als ich verheiratet wurde. Wie die Frauen in den Puranas glaubte ich, ich könne die Befreiung dadurch erlangen, indem ich meinem Mann treu diente. Aber nur ein Jahr später starb auch er plötzlich an den Pocken und ließ mich als Witwe zurück. Ich war noch zu jung, um die ganze Tragweite dieser Katastrophe zu erfassen. Mein Herz war gebrochen. Ich schloss mich in eines der Zimmer unseres großen Hauses ein und brütete über meinem Unglück. Ich hatte keinen Appetit und ging nur noch selten aus dem Haus. Ich wurde sehr blass und hatte Magenprobleme. Die ganze Zeit lag ich auf einer zerschlissenen Matte auf dem Fußboden, hatte meine Hand unter den Kopf gelegt und starrte wie eine Eidechse die Wand an. Wenn jemand mich besuchte, weinte ich bitterlich. Auf diese Weise vergingen einige Monate.

Mit den Jahren begann ich die Welt besser zu verstehen. Ich interessierte mich für religiöse Vorträge, fromme Gesängen und ähnliche Dinge. Meine Familie war über meine intensive Hingabe froh und das half mir sehr in dieser schweren Zeit. Da ich Vater, Mutter und Ehemann so früh verloren hatte, spürte ich, dass ich keine andere Wahl hatte, als Gottes Hilfe durch Gebet und Meditation zu suchen. Noch bevor ich in den Ozean des Samsara eintreten konnte, war mir die Witwenschaft aufgezwungen worden und ich spürte, dass ich aus meiner misslichen Lage das Beste machen sollte.

Da ich aus einem kleinen Dorf stammte, das nicht einmal eine Grundschule hatte, musste ich mich um meine Ausbildung selber kümmern. Die Erwachsenen halfen mir, lesen und schreiben zu lernen. Allmählich begann ich, religiöse Bücher in meiner Muttersprache Telugu zu lesen, v. a. das Bhagavatam. Im 3. Kapitel steht, dass Kapila Mahamuni seiner Mutter Devabhuti das Tatvam[1] gelehrt hat. Das faszinierte mich. Eines Tages las ich diesen Abschnitt mehrere Male hintereinander und betete intensiv, dass auch ich einen Siddhapurusha wie Kapila als Guru finden würde, der mich mit Offenheit und Freundlichkeit lehrte. Ich weinte lange, bis ich müde wurde und einschlief. Da hatte ich im Traum den Darshan eines Weisen, der in Padmasana-Stellung auf einem Podest saß, wie Dakshinamurti nach Süden blickte und von einem Heiligenschein umgeben war. Ein Schauer strömte durch meine Wirbelsäule. Ich wollte aufstehen, um mich vor ihm zu verbeugen. Dabei machte ich ungewollt die Augen auf und die Erscheinung verschwand. Ich suchte das ganze Zimmer ab, konnte aber nichts mehr entdecken. Ich war völlig durcheinander.
Das war 1913. Die Vision hatte sich in mein Gedächtnis eingegraben. Ich betete zu Gott, er möge es mir ermöglichen, einem solchen Weisen zu dienen. Ich behielt das jedoch für mich und erzählte niemandem davon.

Etwa 4 Jahre lang blieb ich bei meiner Schwester im Dorf. Ich diente anderen und betrachtete das als Gottesdienst. Ich half im Haushalt mit und nahm jede Gelegenheit wahr, religiöse Vorträge zu hören.

1918 eröffnete mein ältester Bruder Seshadri Sastri eine Anwaltspraxis in Vijayawada und schloss seine Praxis im Dorf. Ich zog mit ihm nach Vijayawada. Dort badete ich regelmäßig mit anderen Frauen im heiligen Fluss Krishna, besuchte den Tempel, fastete zu besonderen Anlässen und befolgte andere asketische Übungen. Einige ältere strenggläubige Leute kritisierten mich. Sie meinten, Witwen, die beim Tod ihres Mannes ihre Haare nicht hatten scheren lassen, dürften keine solchen Übungen machen. Dasselbe Argument begegnete mir, als ich um Einführung (Upadesa) in die Mantrapraxis bat. Deshalb wollte ich dieses Hindernis loswerden.

Nachdem ich meine Brüder wiederholt um Erlaubnis gebeten hatte, mir den Kopf rasieren zu lassen, nahmen sie mich zu diesem Zweck nach Tirupati mit. Als wir aber in Madras angekommen waren, erreichte uns die Nachricht, dass ein großes Unglück in unserer nahen Verwandtschaft geschehen war, und wir mussten nach Hause zurück. Wir spürten, dass Gottes Wille ein anderer war. Meine Brüder waren stets gegen diese barbarische Sitte gewesen, den Witwen die Haare abzuschneiden, und als dieses unerwartete Hindernis eintrat, gaben sie den Gedanken daran völlig auf. Zudem haben die Älteren gesagt, dass die Rasur zwar für jene nötig sei, die dem Weg des Karma folgen, aber nicht für jene, die dem Weg des Jnana folgen. Als ich darüber nachdachte, gab auch ich jeden weiteren Gedanken daran auf. Meine strenggläubigen Verwandten sparten jedoch nicht an öffentlicher und versteckter Kritik, doch ich kümmerte mich nicht mehr darum.

Eine ältere Frau namens Kaivarapu Balamba, die eine entfernte Verwandte von mir war, lebte damals im großen Pilgerzentrum von Mangalagiri. Sie unterhielt die dortige Pilgerherberge und verteilte freies Essen an die Pilger. Es ist keine Übertreibung zu sagen, dass es niemanden gab, der nach Mangalagiri pilgerte, ohne in ihrer Herberge verköstigt worden zu sein. Sie verehrte Narasimha, den Herrn dieser Pilgerstätte, als ihre Familiengottheit.
Zuweilen kamen mehr Leute als Essen da war. Wenn die Köche das Essen nicht verteilen wollten, weil sie befürchteten, es würde nicht für alle reichen, zerbrach sie eine Kokosnuss, ging dreimal mit brennendem Kampfer um das Essen herum und betete zu Gott: »Oh Vater Narasimha, was sollen wir bloß tun? Du musst Dich darum kümmern, dass das Essen für alle Pilger reicht.« Dann wurde das Essen ausgegeben und es war nie zu wenig. Die Leute sprachen voller Bewunderung davon.
Einmal im Jahr besuchte Balamba meinen Bruder, um die jährliche Spende für ihre Küche abzuholen. Dann redete sie voller Mitgefühl mit mir und erzählte mir Geschichten aus dem Bhagavatam. Da auch sie Witwe war und nie ihr Haar abgeschnitten hatte, tröstete mich ihr Vorbild.

Auch das Leben der späteren Tharikonda Venkamamba diente mir als Vorbild. Es wird berichtet, dass sie ebenfalls als Kind Witwe geworden war. Sie war eine Jnani von höchstem Rang. Es gibt unzählige Geschichten über sie, die aber kaum bekannt sind. Ihre Werke in Telugu sind hervorragend. Die strenggläubigen Frauen kennen ihre Lieder über Krishnas Kindheit auswendig. So weit bekannt ist, hat auch sie ihre Haare behalten, als sie Witwe geworden war. Einige ihrer Angehörigen, die das nicht akzeptieren konnten, überredeten das Oberhaupt des Shankaracharya Math dazu, ihr zu befehlen, die Haare abrasieren zu lassen. Sie antwortete, dass sie dem Befehl nur dann nachkommen würde, wenn der Gelehrte persönlich ihre Fragen beantworten würde. Die Schwierigkeit bestand jedoch darin, dass er keine unrasierten Witwen sehen durfte. Wie also sollte man das Problem lösen? Schließlich wurde vereinbart, dass sie mit ihm sprechen konnte, während sie sich hinter einem Vorhang befand. Als das Treffen stattfand, fragte sie ihn: »Was ist es, das rasiert werden soll? Und was ist es, das nicht wieder nachwächst?« Der Gelehrte war über ihr großes Wissen überrascht, erkannte seinen Irrtum und sagte zu ihr: »Mutter, ich habe dir befohlen, dich an die übliche Praxis zu halten, aber für Menschen mit deiner Erkenntnis und von deiner Erhabenheit gelten diese Regeln nicht.«
Durch ihr Beispiel inspiriert blieb ich wie ich war. Doch zugleich wusste ich auch, dass ein geeigneter Guru nötig war, um die weltlichen Wünsche loszuwerden. Ich hielt ständig nach einem solchen Meister Ausschau.

Ich hatte das große Glück, der angesehenen Dichterin Srimathi Gudipudi Indumathi Devi zu begegnen. Von ihr lernte ich, wie man Gedichte schreibt und die Welt in der richtigen Perspektive betrachtet. Bald darauf schrieb ich ein Satakam, ein Gedicht aus 108 Strophen.

1923 starb mein ältester Bruder, der kleinwüchsig war und um den ich mich gekümmert hatte. Ich fühlte mich nun frei von der Verantwortung und Bindung an meine Familie. Ich wollte nicht mehr in meiner Familie bleiben. Der Wunsch, von einer großen Seele den Pfad zur Befreiung gezeigt zu bekommen, wurde immer stärker. Obwohl ich von mehreren bedeutenden geistlichen Männern gehört hatte, war keiner unter ihnen, der dem Siddhapurusha glich, den ich im Traum gesehen hatte, und ich konnte keinen von ihnen als meinen Guru annehmen. Wenn immer es mir möglich war, besuchte ich den Kanaka Durga-Tempel in Vijayawada und betete zu Durga, mir die Gunst eines Sat-Gurus zu gewähren. Ich widmete ihr mein Gedicht aus 108 Strophen. Viele Verse dieses Gedichts thematisieren die Suche nach einem Sat-Guru.

Als ich mich an meinen ersten Gedichten versuchte, holte ich mir den Rat des bekannten Dichters Veluri Sivarama Sastri ein. Er freute sich über meine schriftstellerischen Versuche und sagte: »Das Schreiben von Gedichten wird dir in deinem Leben der Hingabe von großem Nutzen sein. Wenn du mit der Einstellung schreibst, dass von 10 Versen etwa einer brauchbar ist, wirst du nicht enttäuscht sein. Lass dir mit dem Veröffentlichen Zeit.« Ich nahm mir seinen Rat zu Herzen und zeigte niemandem etwas von dem, was ich in jener Zeit schrieb.

Ich las viele Bücher über Vedanta. Da ich mich aber nach der Gnade eines Gurus sehnte, konnte ich keinen Geistesfrieden finden. Schließlich widmete ich mich der spirituellen Übung, das Selbst als Balakrishna[2] zu betrachten und meinen Geist als eines der Hirtenmädchen. Ich verbrachte viel Zeit mit der Verehrung Krishnas. Als ich spürte, dass Geist, Gefühle und Gedanken miteinander im Einklang waren, begann ich ein Gedicht zu schreiben. Ich gab ihm den Titel ›Balakrishna Gitavali‹.

Die Tage widmete ich den Aufgaben im Haushalt und die Nächte dem Gedanken an Gott. Das Schreiben von Gedichten, meine spirituelle Praxis und auch die Vision, die ich einst vom Siddhapurusha hatte, hielt ich geheim. Selbst meinen Brüdern erzählte ich nichts davon. Sie versorgten mich liebevoll mit jedem Buch, das ich haben wollte. Ich las sie alle. Trotzdem konnte ich immer noch keinen Geistesfrieden finden.

Da ich glaubte, dass der Dienst am Menschen dasselbe wie der Dienst an Gott sei, kümmerte ich mich um viele Kranke. Aber auch das verhalf mir nicht zum Geistesfrieden. Ich wurde beständig von einem unerklärlichen Schmerz und einer geistigen Unzufriedenzeit geplagt. Mit der Zeit gewann diese Unzufriedenheit an Intensität und ich spürte, dass ich meine Familie verlassen musste. Deshalb bat ich meine Brüder, mir zu erlauben, an irgendeinem heiligen Ort zu leben, doch sie entgegneten: »Wohin kannst du schon alleine gehen?«
Als mein ältester Bruder D.S. Sastri in Alleppey lebte, besuchte ich mit ihm zusammen heilige Orte. Ich wäre gerne an einem dieser Orte geblieben, um vor der Familie Ruhe zu haben. Ich schlug meinen Brüdern vor, dass ich in Vijayawada für mich leben könnte, wenn sie mir ein kleines Haus besorgen würden. Da meinten sie, ich sollte einen der Söhne meiner Schwester adoptieren. Ich erwiderte, dass das nur eine neue Familie bedeuten würde und dass an Adoption nicht zu denken sei, da ich kein eigenes Vermögen besaß. Also wurde diese Idee fallen gelassen wie auch der Gedanke, ich könnte für mich in einem eigenen Haus leben.

Fast zehn Jahre meines Lebens verbrachte ich in Unzufriedenheit. Meine Depression verstärkte sich und wirkte sich auch körperlich aus, bis ich zuletzt bettlägerig wurde. Verschiedene Medikamente wurden ausprobiert, halfen aber nicht. Nachdem unsere Familienärzte mich regelmäßig untersucht und die Entwicklung genau verfolgt hatten, kamen sie zu dem Ergebnis, dass meine Krankheit rein psychisch war und nicht auf medikamentöse Behandlung ansprach. Sie machten mir klar, dass ich selbst etwas für meine Gesundheit tun müsste und dass niemand mir helfen könnte. Ich verstand dies als Gottes Wort und entschloss mich, irgendwie der Familienatmosphäre zu entkommen. Das war im Januar oder Februar 1940.
Im Mai 1940 begann ich mit einer Kur. Ich nahm Wannenbäder, aß nur noch Gerichte mit Hirsemehl und Gemüse und vermied Salz, Chilli und Gewürze. Ich nahm dies als Entschuldigung, um wieder in mein Heimatdorf Kolanukonda zu ziehen, wozu ich die Erlaubnis meiner Brüder erhielt.

Das Haus meines Vaters in Kolanukonda war lange leer gestanden. Schlangen, Skorpione und andere giftige Reptilien hatten sich dort eingenistet und krochen frei umher. Wir mussten zusammenleben, kamen einander aber nicht in die Quere. Sie kamen nachts heraus und ließen mich tagsüber in Ruhe. Unser Zusammenleben war sehr amüsant und gab mir reichlich Gelegenheit, ein Leben voller Freundschaft gegenüber allen Lebewesen zu führen.
Mein Tagesablauf richtete sich nach der Natur. Ich badete in einem Kübel, was man ›Naturheilverfahren‹ nennt. Zudem badete ich in einem Kanal des Flusses Krishna. Meine Nahrung war sattvisch und meinen Gottesdienst verrichtete ich in den Dorftempeln. Den Leuten, die sich am Nachmittag bei mir einfanden, las ich aus dem Bhagavatam vor und erklärte es ihnen.

Etwa zu dieser Zeit arbeitete mein Bruder D.S. Sastri in Ernakulam bei einer Zweigstelle der Zentralbank von Indien. 1941 wurde er nach Ahmedabad versetzt. Bevor er dort seinen Dienst antrat, nahm er sich einen Monat Auszeit und ging mit seiner Frau auf Pilgerreise. Sie besuchten verschiedene Orte im Süden. So kam er auch nach Tiruvannamalai und hatte das Glück, den Darshan von Bhagavan Sri Ramana Maharshi zu erhalten.
Glücklicherweise kam es ihm in den Sinn, dass auch mir ein Besuch beim Maharshi gut tun würde. Meine Cousine Subbamma lebte im Ashram. Vor einigen Monaten war ihr Mann gestorben und sie wollte dort ihren Geistesfrieden wieder finden. Mein Bruder meinte, sie könnte mir behilflich sein. Da ich bereits alleine nach Bombay, Coimbatore, Ernakulam und an andere Orte gereist war, sprach ich etwas Hindi und Tamil und traute mir zu, alleine nach Tiruvannamalai zu reisen. Mein Bruder in Vijayawada kaufte mir eine Fahrkarte nach Tiruvannamalai und brachte mich an einem Abend im Juli 1941 auf den Bahnhof in Madras. Er instruierte mich, in Gudur umzusteigen und dort den Zug über Katpadi zu nehmen.


Meine Pilgerreise zum Ramanashram

Ich kam vor Sonnenaufgang in Gudur an, nahm dort ein Bad und stieg in den Zug nach Tiruvannamalai. Da es kein extra Abteil für Frauen gab, musste ich mich ins allgemeine Abteil setzen. Kalahasti und Tirupadi lagen auf dem Weg. Da ich diese Stätten noch nie besucht hatte, fragte ich mich, ob ich die Gelegenheit nutzen konnte. Ich hatte eine durchgängige Fahrkarte und dachte, dass eine Unterbrechung nicht erlaubt sei. Als ich mit einigen Leuten im Abteil darüber redete, sagte ein Herr, der ein Staatsbeamter zu sein schien: »Sie können mit Ihrer Fahrkarte die Reise für 3 Tage unterbrechen. Es ist jetzt kurz vor 9 Uhr. Wenn Sie in Kalahasti aussteigen und zu Avulammas Hotel gehen, wird sie Ihnen ein Zimmer geben. Sie können Ihr Gepäck dort lassen, im Swarnamukhi-Fluss baden und den Darshan von Kalahasteswara im Tempel erhalten. Wenn Sie zurückkommen, wird Ihre Mahlzeit bereit stehen. Danach können Sie sich etwas ausruhen und um 2.30 Uhr nachmittags den Zug nach Tirupati nehmen. Dort werden Sie gegen 20 Uhr eintreffen. Sie haben dann 2 Tage für Tirupati zur Verfügung und werden Tiruvannamalai noch rechtzeitig erreichen.«
Als der Zug in Kalahasti ankam, war ich immer noch unschlüssig. Der Herr stieg aus, nahm mein Gepäck zusammen mit dem seinen aus dem Zug und besorgte mir einen Ochsenkarren. Er wies den Fahrer an, mich zum Hotel von Avulamma zu bringen und ging dann seiner Wege. Ich dachte, es müsse Gottes Wille sein, hatte den Darshan des Herrn Kalahasteswara und nahm um 2.30 Uhr den Zug nach Tirupati, wo ich am selben Abend ankam. Ich hatte dort eine alte Bekannte und konnte bei ihr wohnen. Sie begleitete mich auf den Berg und wir besuchten noch andere heilige Orte. Am dritten Tag stieg ich in den Zug zum Arunachala. Der Vorschrift, dass dem Darshan des Gurus eine Pilgerreise vorangehen sollte, war damit zufälligerweise Genüge getan.

Mein Zug sollte um 16 Uhr Kapadi erreichen, hatte aber eine Stunde Verspätung und ich verpasste den Anschluss. Der nächste Zug fuhr um 18.30 Uhr, sodass ich Tiruvannamalai erst um 20.30 Uhr erreichen würde.
Ich hatte gehört, dass es Frauen nicht gestattet war, nach Einbruch der Dunkelheit in den Ashram zu kommen. Meine Mitreisenden bestätigten mir das. Ich wusste nicht, was ich tun sollte und wohin ich mich wenden konnte. Die Adresse von Subbamma hatte ich nicht und sonst kannte ich niemanden in Tiruvannamalai. Zwei Frauen in meinem Abteil bemerkten meine Unruhe und sagten: »Wir gehen zu Verwandten in Tiruvannamalai. Sie können die Nacht bei uns verbringen und am nächsten Morgen zum Ashram gehen.« Ich dankte ihnen für ihr freundliches Angebot und sagte, dass ich darauf zurückkommen würde, falls ich im Pilgerheim nicht unterkommen könnte.

Um 20.30 Uhr erreichte der Zug Tiruvannamalai. Die Frauen gaben meinem Fahrer die Adresse ihrer Verwandten und gingen. Ich wurde zur Pilgerherberge gebracht. Dort hieß es, dass zurzeit keine Frauen hier wohnten und es deshalb ungehörig wäre, wenn ich alleine dort nächtigen würde. Ich möge mir doch eine andere Unterkunft suchen. Der Fahrer brachte mich also zu der Adresse, die die Frauen ihm gegeben hatten.
Als ich dort ankam, luden mich die beiden Frauen herzlich ein. Man brachte mein Gepäck herein. Ich wusch mir am Brunnen die Füße, trank Wasser und wartete auf der Veranda, da die Frauen ins Gespräch mit ihren Verwandten vertieft waren. Es war unangenehm, auf der Veranda von Fremden alleine gelassen zu werden. Um 22 Uhr kam der Hausherr heim und als er mich dort stehen sah, fragte er barsch in Tamil: »Wer ist das?« Ich ärgerte mich über seine Manier und erwiderte: »Bitte, gehen Sie hinein und fragen Sie nach.« Er ging hinein, kam aber nicht wieder heraus, um mir weitere Fragen zu stellen.
Ich fühlte mich unwohl und fragte mich, was das wohl für Leute seien. Ich fragte einige Passanten, ob ich zu dieser Zeit noch in den Ashram gehen könnte. Der eine meinte »ja«, der andere »nein«. Eine Nachbarin bekam das mit. Sie kam heraus und sagte, dass ich unmöglich zu dieser Stunde in den Ashram gehen könnte. Da sie mich in Telugu ansprach und so verständnisvoll war, fasste ich wieder etwas Mut. Wir unterhielten uns eine Weile und schlossen Freundschaft. Ihr Mann war anscheinend im Ashram angestellt. Sie versicherte mir, dass die Leute, bei denen ich mein Gepäck gelassen hatte, respektabel seien. Trotzdem schlief ich auf ihrer Veranda.
Ich wachte früh auf, badete in ihrem Haus, und als mein Gepäck im Karren verstaut worden war, kam ihr Mann herein. Er sagte, dass es im Ashram eine telugische Frau namens Varanasi Subbalakshmamma gäbe, die sich um mich kümmern würde.


Mein erstes Darshan von Sri Ramana Maharshi

Der Karren fuhr durchs Ashramtor und hielt. Als ich ausstieg, kam Sambasiva Rao, der ein großer Devotee des Maharshi war, auf mich zu und fragte woher ich käme. Ich erzählte ihm, ich käme aus Vijayawada, nannte ihm die Namen meiner Brüder und sagte, ich würde gerne für zwei oder drei Wochen dableiben. Er sprach mit dem Ashramverwalter (Sri Ramanas jüngerer Bruder Chinnaswami) und ich wurde herzlich willkommen geheißen. Sambasiva Rao bat Subbalakshmamma, sich um mich und mein Gepäck zu kümmern. Sie plauderte freundlich mit mir, brachte mir Kaffee und sagte, dass Bhagavan nach dem Frühstück auf den Berg gegangen sei. Dann brachte sie mich zu meiner Cousine Subbamma, die sehr überrascht war, mich zu sehen. Als ich ihr meine Geschichte erzählt hatte, kam Bhagavan zurück und setzte sich auf sein Sofa in der Halle. Subbalakshmamma nahm mich in die Halle mit.


Ich hatte weder Früchte noch Blumen mitgebracht und hatte nichts im Gepäck, was ich Bhagavan anbieten konnte. Auch mein Geist war leer. In meinem ›Satakam‹ hatte ich einst folgenden Vers geschrieben: »Eine verwirklichte Seele wünscht sich nichts von denen, die zu ihm kommen. Gib ihm die Blume deines Geistes und erwirb dir seinen Segen, indem du dich ihm hingibst und ihm dienst.«
Erst wenn man einen selbstverwirklichten Meister gefunden hat, können die Unreinheiten des Geistes weggewaschen werden und die Blume des Geistes kann erblühen. Dem Guru kann nur eine solch reine Blume angeboten werden. Da dies mein Vorhaben und meine Einstellung war, war ich nicht besonders besorgt, dass ich Bhagavan nichts mitgebracht hatte.

Ich war sehr nervös und meine Hände waren leer, als ich die Halle betrat. Ich verneigte mich lediglich vor Bhagavan und setzte mich mit gesenktem Kopf auf den Platz, der für die Frauen reserviert war. In der Halle herrschte völlige Stille und vollkommener Friede. Nach 10 Minuten blickte ich auf und bemerkte, dass Bhagavan mich intensiv ansah. Sein mitleidsvoller Blick beruhigte meinen unruhigen Geist, aber ich konnte seinem intensiven Blick nicht standhalten und senkte unwillkürlich meinen Kopf.
An diesem Nachmittag schrieb ich mein Empfinden in einem Vers nieder. Er lautet: »Ich sah ihn an und er sah mich an. Sein Strahlen war jedoch so intensiv, dass ich meinen Kopf scheu senkte.«
In den nächsten 3 Tagen verbrachte ich meine ganze Zeit im Ashram. Zum Schlafen ging ich mit den anderen Frauen in die Stadt. Auf dem Weg lernte ich den Arunachala-Tempel kennen. Später mietete ich mir ein Zimmer in der Stadt. Dort kochte ich mir selber, denn im Ashram konnte ich meine Diät nicht bekommen. Bevor ich dort einzog, wurde mir nahe gelegt, dass es gut wäre, wenn ich ein Bhiksha (Armenspeisung) im Ashram ausrichten würde. In jenen Tagen kostete das nur 5 Rupien. Mir wurde auch empfohlen, Bhagavan zu diesem Anlass ein Koupina (Lendentuch) und ein Handtuch zu schenken. Ich kaufte beides und gab es ihm. Nach der Bhiksha zog ich um. Von da an verbrachte ich die Vormittage und Abende im Ashram und kehrte zum Essen in mein Zimmer zurück.

Auf diese Weise vergingen 10 Tage. Obwohl Bhagavan noch nichts zu mir gesagt hatte, war ich von ihm tief beeindruckt. Ich fand, er sei dem Mahapurusha ähnlich, der mir einst im Traum erschienen ist. Ich entdeckte in ihm alle Eigenschaften eines Jivanmukta, wie sie im Vasishtam und in anderen Büchern des Vedanta beschrieben werden. Er schien von allem unberührt, wie das Wasser auf einem Lotusblatt, das in der Sonne glitzert.
Nachdem ich Bhagavan tagelang beobachtet hatte, kam ich zu der Überzeugung, dass er die Person war, die meine Unwissenheit vertreiben konnte und dass ich mich seiner Sorge anvertrauen sollte. Doch ich konnte nicht den Mut aufbringen, ihm das in Worten zu sagen.


Hingabe (Saranagati)

Ich hatte schon früher gehört, dass Bhagavan Telugu sprach. Doch er konnte auch Telugu lesen und schreiben, wie ich jetzt bemerkte. Ich beobachtete, dass manche Devotees etwas auf ein Stück Papier schrieben und es ihm gaben, obwohl sie keine gebildeten Leute waren. Davon bestärkt dichtete ich 8 Verse über die Hingabe (Saranagati) und gab sie einem seiner Gehilfen, als Bhagavan gerade nicht da war, da ich mich nicht getraute, sie ihm selbst zu geben.
Nachdem Bhagavan in die Halle zurückgehrt war, gab ihm Madhavaswami meinen Zettel. Der Meister las die Verse und sagte: »Sie heißt Nagamma. Es sind Verse über Saranagati. Klebe sie ins Buch.«[3] Madhavaswami klebte sie in das große gebundene Buch und meinte: »Ramaswami Iyer hat auch ein Gedicht über Saranagati geschrieben.« »Ja«, erwiderte Bhagavan. »Er hat es in Liedform geschrieben, während sie es in Versform verfasst hat.« Ich war sehr glücklich. Ich hatte geglaubt, dass berühmte Gelehrte hier seien und ich mit meinem kläglichen Wissen einen armseligen Eindruck machen würde, doch jetzt hatte ich Zuversicht gewonnen.

Vier Tage später schrieb ich ein Gedicht mit der Überschrift: ›Der Ashram und der Maharshi‹ und ließ es Bhagavan auf demselben Weg zukommen. Diesmal sagte er nichts.
Am nächsten Tag fragte ich Madhavaswami in Tamil, was mit dem Gedicht geschehen sei, als er außerhalb der Halle seiner Arbeit nachging. Ich dachte, Bhagavan habe mich nicht gehört. Madhavaswami antwortete, die Verse seien ins Buch geklebt worden. Damit zufrieden ging ich in die Halle und verneigte mich vor Bhagavan. Als ich mich wieder erhob, fragte er lächelnd: »Wo hast du Tamil gelernt?« Ich war verblüfft. Als ich mich wieder gefasst hatte, antwortete ich: »Mein zweitältester Bruder arbeitet in der Zentralbank von Indien. Ich habe bei ihm in Coimbatore, Alleppey, Ernakulam und in anderen Städten im Süden gelebt und die Sprache gelernt.«

Das war mein erstes Gespräch mit Bhagavan. Ich hatte geglaubt, es sei für eine Person wie mich unmöglich, im Ashram aufgenommen zu werden. Aber jetzt hatte er selbst mit mir gesprochen und das machte mich außerordentlich glücklich. Überwältigt von seiner Freundlichkeit setzte ich mich an meinen Platz. Meine Familienbande hatte ich bereits gelöst. Jetzt, in meinem neuen Leben, banden mich der erbarmungsvolle Blick und die freundlichen Worte der Ermutigung in Liebe an meinen Sat-Guru. Ich fühlte mich wie von einer enormen Last befreit.

Inzwischen waren drei Wochen vergangen. Ich beobachtete die Ungezwungenheit, mit der die Devotees ihre Fragen stellten und beantwortet bekamen, wie sie ein friedvolles und zufriedenes Leben bei Bhagavan führten. Ich spürte, dass er der Guru war, der mich führen und der mir helfen konnte. Intuitiv spürte ich, dass ich meinen Hafen gefunden hatte und beschloss, im Ashram zu bleiben. In der Bhagavadgita IX,22 heißt es:
»Jenen Devotees, die nur noch Mich kennen,
die beständig an Mich denken und Mich unablässig verehren,
die in Gedanken mit Mir vereint sind,
gebe Ich völlige Sicherheit.
Ich kümmere mich persönlich um ihre Bedürfnisse.«
Wenn wir Ihm beharrlich dienen, gibt er uns die völlige Sicherheit, indem er sich um unsere sämtlichen Bedürfnisse kümmert. Ich spürte, dass ich als Erstes ausnahmslos dem Guru dienen sollte, indem ich bei ihm im Ashram blieb.

Meine Schwägerin erwartete zu jener Zeit ein Kind. Ich hatte ihr versprochen, dass ich bei ihrer Niederkunft da sein würde. Auch waren das Hirse-Mehl und die anderen Lebensmittel, die ich mitgebracht hatte, aufgebraucht. Also beschloss ich heimzufahren und die nötigen Vorbereitungen zu treffen, um mich dauerhaft im Ashram einzurichten. Allerdings wollte ich nicht ohne Bhagavans Zustimmung weggehen. Deshalb schrieb ich ihm eine kleine Nachricht, dass ich heimgehen würde, wie ich es meiner Familie versprochen hatte, aber dass ich nur ungern von ihm fort ginge und er mich bitte segnen möge, damit ich bald zu ihm zurückkehren könne. Bhagavan nickte zum Zeichen seiner Zustimmung, faltete die Notiz zusammen und legte sie aufs Regal.


Alles ist von Ramanas Gnade erfüllt

Ich musste in Tiruvannamalai den Zug um 9.30 Uhr erreichen, der über Katpadi direkt nach Gudur fuhr. Am nächsten Morgen räumte ich mein Zimmer in der Stadt und ging zum Ashram, um mich zu verabschieden. Bhagavan war von seinem Spaziergang zurückgekehrt und saß in der Halle. Ich ließ mein Gepäck im Wagen und ging zu ihm. Nachdem ich ihn gegrüßt hatte, wartete ich auf seine Erlaubnis, gehen zu dürfen. Er schaute mich fest an. Oh, wie kühlend war dieser Blick! Mein Körper wurde von Kopf bis Fuß kühl und still. Wie dumm war es, jetzt fortzugehen, nachdem ich mich über 12 Jahre lang nach einem Guru gesehnt hatte und mit der Erlaubnis meiner Brüder hergekommen war. Ich hatte doch soeben meinen Sat-Guru gefunden!
Dieser Gedanke hinderte mich daran, mich von der Stelle zu bewegen. Der Fuhrmann rief von draußen, die Zeit sei um. Ich war nicht fähig etwas zu Bhagavan zu sagen und nickte nur. Bhagavan erkannte meine Zwangslage und nickte ebenfalls. Mit Tränen in den Augen ging ich. Meine Cousine Subbamma und Varanasi Subbalakshmamma trösteten mich damit, dass ich ja bald wieder zurück sein würde. Ich stieg in den Wagen.

Als der Wagen das Ashramtor passierte, wische ich mir die Tränen ab und schaute mich um. Doch wohin ich auch sah, ich sah nur das strahlende Angesicht Bhagavans. Ich schloss die Augen, aber Bhagavans Bild blieb. Bald erreichte der Wagen den Arunachaleswara-Tempel. Ich blickte zum Torturm empor. Bhagavan war auch dort. Wir fuhren zum Bahnhof weiter. Der Fuhrmann kaufte mir die Fahrkarte und setzte mich in den Zug. Das Abteil für die Frauen war ziemlich leer. Nachdem ich mein Gepäck verstaut hatte, setzte ich mich ans Fenster und behielt den Arunachala fest im Blick. Der Zug fuhr an. Langsam verschwanden die Tortürme des Tempels, die Spitze des Berges und alles andere aus meinem Blickfeld. Nur Bhagavans Bild blieb unerschütterlich in meinem Geist verankert. Ich sah ihn, wohin ich auch blickte. Ich wandte meine Augen vom Fenster ab und schaute mich im Abteil um. Auch hier fand ich nur Bhagavan. Ramana schien überallhin mit mir zu reisen. Wie fest hatte sich mir sein Bild eingeprägt! Das ist die Gnade des Gurus. Ich fühlte mich wie das Lamm im Maul des Tigers. Ich kümmerte mich nicht um Hunger und Durst. Ich sagte mir: »Alles ist von Ramana erfüllt. Die Welt ist von Ramana erfüllt.«

Die Frau, die neben mir saß, fragte, woher ich käme. Ich antwortete, ich käme vom Ramanashram. »Ja«, erwiderte sie, »ich kann es an Ihrem Benehmen erkennen. Wenn Sie Kapadi erreichen, trinken Sie dort wenigstens einen Kaffee.« Ich trank in Kapadi einen Kaffee, stieg in Gudur um und erreichte Vijayawada.

Als ich mich Zuhause meinen Haushaltspflichten widmete, war mein Geist immer bei Bhagavan. Meine Familie bemerkte meine Veränderung. Sie fragten, warum ich so launisch und abwesend sei. Ich behauptete, ich hätte mich überhaupt nicht verändert. Sie tuschelten untereinander, dass ich mich wie eine Verrückte benähme. Ich hatte eine Tante, die tatsächlich verrückt war, und deshalb glaubten sie, auch ich würde verrückt werden. Wie konnten sie verstehen, dass die Verrücktheit, die mich ergriffen hatte, von anderer Art war?

Inzwischen hatte meine Schwägerin einen Jungen geboren. Es war ihr 8. Kind. Als sie mich fragten, welchen Namen sie ihm geben sollten, sagte ich, er müsse unbedingt ›Ramana‹ heißen. Sie gaben ihm den Namen ›Ramana Sarma‹.
Damit war meine Aufgabe beendet. Ich sagte meiner Familie, dass ich zum Ashram zurückkehren würde, aber ich würde kommen, wenn sie mich bräuchten. Im November 1941 packte ich alles zusammen, was ich für einen dauerhaften Aufenthalt im Ashram benötigte, und kam dort zu Deepam an.

[1] Tatvam = wahre Natur; ta tvam asi = das (Brahman) bist du
[2] Balakrishna = Krishna
[3] das Buch, in das alle Gedichte von Devotees hineingeklebt wurden

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